Wenn in Unternehmen große strategische Transformationsprojekte stattfinden, kommt es häufig zunächst zu einem Rückgang der Leistungsfähigkeit. In diesem Artikel geht es um mögliche Gründe hierfür und wie man diese Leistungslücke schließen kann.

Wie Veränderungen typischerweise ablaufen

Wenn wir über strategische Neuausrichtungen und Transformationen sprechen, dann handelt es sich zweifelsohne um anspruchsvolle Projekte. Jedes dieser Projekte ist einzigartig und unterscheidet sich von anderen Vorhaben sowohl durch die Ausgangssituation als auch die zu erreichenden Ziele. Dennoch haben sich im Management einige Modelle etabliert, die idealtypische Abläufe von Veränderungen darstellen.

Eines dieser Modelle ist die Change-Kurve nach Elisabeth Kübler-Ross, einer schweizerisch-US-amerikanischen Psychiaterin.

Ihre Erkenntnisse haben ihren Ursprung Ende der 60er Jahre, in der Beobachtung von sterbenden und trauernden Menschen. Später wurde sie modifiziert und auch als Modell von individuellen Veränderungsprozessen angewendet. Liegen Change Management und tiefe Trauer tatsächlich so eng bei einander?🤔

Warum so negativ?

Auch wenn die Darstellung von Kübler-Ross in vielen Trainings für Führungskräfte und Change Manager thematisiert wird, lassen sich die Erkenntnisse nach meiner persönlichen Erfahrung in der Praxis nur teilweise auf die individuelle Leistungsfähigkeit übertragen. Insbesondere die frühen Phasen, wie das Auftreten von Schock, Abwehr oder das Trauern um die alte Lösung begegnen Ihnen nicht zwangsläufig.

Die in dem Modell verwendeten Begriffe suggerieren bereits negative Assoziationen. Bei Veränderungen, die mit Befürchtungen um Job- oder Reputationsverlust einhergehen, oder Versetzung an einen anderen Arbeitsort und somit weniger Freizeit und höhere Kosten, mag das noch zutreffen. Aber was wäre zum Beispiel, wenn ein Unternehmen ein Modell für eine 4-Tage-Woche erarbeiten möchte, weil es sich dadurch mehr Produktivität und Mitarbeiterbindung erhofft? Ich bin mir sicher, dass in diesem Fall zunächst nicht nur negative Gedanken und Ablehnung zum Ausdruck kommen werden.

Schlussendlich ist es so, dass jede Person individuell bewertet, ob eine Veränderung positive oder negative Auswirkungen mit sich bringt. Die Motive und Einstellungen der betroffenen Personen und die Emotionen, die sich hieraus ergeben, sind sehr unterschiedlich.

Der Einfluss unterschiedlicher Kräfte

Ein weiteres Modell zur Beschreibung von Veränderung stammt von Kurt Lewin, einem Deutschen Sozialpsychologen. Seine Erkenntnisse liegen zeitlich zwar noch weiter zurück aber sie haben noch immer viel Einfluss, wenn es um das Verständnis von Veränderungsprozessen geht. In seinem 3-Phasen-Modell stellt Lewin den Verlauf von Leistungsfähigkeit in Abhängigkeit der Zeit als ähnlichen Verlauf dar, wie Kübler & Ross. Allerdings bezieht er sich nicht auf die individuelle Leistungsfähigkeit, sondern auf die Leistungsfähigkeit der Organisation. Er abstrahiert auf drei wesentliche Phasen (Auftauen > Bewegen > Einfrieren). Lewin bezieht sich in dem Modell auch auf seine Feldtheorie. Diese beschreibt die Existenz von zwei grundlegenden Kräften. Eine Kraft widerstrebt der Veränderung und möchte den Status Quo beibehalten, während die andere Veränderung unterstützt. Mehr zu diesen Kräften später. Ein persönlicher Kritikpunkt an Lewins Modell ist die Wahl des Begriffs des „Einfrierens“. Dies widerspricht der Tatsache, dass Unternehmen sich ständig weiterentwickeln (müssen) und würde ebenso im Widerspruch zu kontinuierlicher Verbesserung stehen.

Darüber muss man sich bewusst sein, dass beide Modelle eben auch nur das sind: Modelle. Sie sind abstrakt und reduziert. Bei Veränderungen handelt es sich um komplexe Prozesse, die sich nicht vollständig durch idealtypische Phasenmodelle erklären lassen.

Schauen wir uns beide Modelle im Vergleich an:

Change Kurve nach Kubler-Ross
3-Phasen Modell nach Kurt Lewin

Während beim Modell von Kübler-Ross individuelle Emotionen im Vordergrund stehen, betrachtet Lewin eher die organisatorische Ebene bei Veränderungen. Ein weiteres Modell mit einem vergleichbaren Leistung/Zeit Verlauf ist das 5-Phasige Modell (Status Quo, Widerstand, Chaos, Integration, Neuer Status Quo)  von Virginia Satir, das aus dem Bereich familiärer Veränderungen stammt. Im Zentrum ihrer Betrachtung stehen systemische Elemente und zwischenmenschliche Beziehungen.

Die Macht der Gewohnheit

Im Vergleich sieht man, das alle Modelle, obwohl sie jeweils einen etwas anderen Ansatz verfolgen, einen qualitativ ähnlichen Kurvenverlauf mit folgenden Merkmalen zeigen:

  1. Einen Rückgang der Leistungsfähigkeit nach dem Eintreten der Veränderung
  2. Einen Wendepunkt, ab dem die Leistung wieder steigt
  3. Den Punkt, an dem die bisherige Leistungsfähigkeit wieder erreicht wird
  4. Das Leistungs-Niveau, das nach erfolgreicher Veränderung erreicht ist

Dieser Verlauf ist auch ohne empirische Grundlage gut nachvollziehbar. Menschen sind in der Regel mit gewohnten und präferierten Methoden effizienter. Wenn der Bereich des Gewohnten verlassen wird und neue Methoden oder Verfahren anzuwenden sind, dann liefern diese häufig nicht von Beginn an das gewünschte Ergebnis. Erst mit der Akzeptanz und zunehmender Routine, stellt sich ein neues (und im Idealfall höheres) Leistungsniveau ein. Der Begriff der „Lernkurve“ ist hier sehr zutreffend.

Versuchen Sie einmal, Ihren Namen mit der anderen, als der gewohnten Hand zu schreiben. Sehr wahrscheinlich wird Ihr Name zu entziffern sein. Im Vergleich zu der von Ihnen gewohnten Schreibweise werden Sie jedoch länger brauchen, es wird anstrengender sein und optisch nicht dem Ergebnis entsprechen, welches Sie sich wünschen würden. Mit etwas Übung wird das Ergebnis dann zunehmend besser (wenn auch vielleicht nicht besser als mit der gewohnten Hand). Vielleicht erinnern Sie sich auch noch an die ersten Schreibversuche mit einer Tastatur. Vergleichen Sie einmal, die Fehlerquote ihrer ersten „Gehversuche“ mit ihren aktuellen Fähigkeiten.

Ein weiterer Grund: Das Veränderungsprojekt wird in der Regel parallel zum laufenden Tagesgeschäft durchgeführt. Zeit, die in der Organisation für Projektmeetings und Workshops aufgewendet wird, fehlt im operativen Bereich. Dieser Effekt kommt besonders bei kleineren Unternehmen zum tragen, bei dem Mitarbeitenden sowohl operative Aufgaben als auch Projektaufgaben zugeteilt werden und kein „Vollzeit“-Projektmanagement vorhanden ist.

In einigen Darstellungen findet man in den Kurven noch einen vorübergehenden Anstieg der Leistungsfähigkeit, bevor diese nachlässt. In einigen Fällen kann man diesen Effekt gut wahrnehmen. Es gibt hierzu im Wesentlichen zwei praktische Erklärungen. Entweder steigt die Leistung aufgrund von Ablehnung, um zu demonstrieren, dass keine Veränderung notwendig ist, weil das Bestehende gute Ergebnisse liefert. Ebenso sind positive Ursachen möglich, zum Beispiel aufgrund von Anfangseuphorie bei mehrheitlich gewünschten bzw. befürworteten Veränderungen.

Der optimierte Kurvenverlauf

Wenn wir also unterstellen, dass erfolgreiche Veränderungen idealtypisch dem gezeigten Kurvenverlauf entsprechen, dann kann man schnell feststellen, wie sich der Verlauf optimieren ließe:

  1. Minimierung des Leistungsrückgangs
  2. Minimierung der Zeit bis zum Erreichen des Wendepunktes (siehe Punkt 2 oben)
  3. Minimieren der Zeit bis zum Erreichen des neuen Leistungsniveaus
  4. Maximierung der Leistungssteigerung gegenüber der Leistungsfähigkeit im Status Quo

Durch diese Maßnahmen ließe sich die eingebüßte Leistungsfähigkeit im Veränderungsprozess insgesamt verringern. Basierend auf einem strukturierten Prozess steigt auch die Wahrscheinlichkeit auf ein besser nutzbares Ergebnis und somit ein langfristiger Mehrwert. Diesen Vorsprung nicht zu nutzen würde ebenfalls einen Opportunitätsverlust der Organisationsperformance darstellen. Die unten gezeigte Abbildung verdeutlicht dies. Ich habe eine ähnliche Abbildung bereits in mehreren Veröffentlichungen und Schulungsunterlagen gesehen. Der genaue Ursprung ist mir leider nicht bekannt. Natürlich ist eine notwendige Voraussetzung, dass die gewählte Veränderung grundsätzlich in der Lage ist, die Leistungsfähigkeit zu erhöhen und dass das Projekt bis zu diesem Punkt durchgeführt wird und nicht auf halbem Weg an Aufmerksamkeit verliert und aufgegeben wird.

Mit Change Management lässt sich der Performance Verlust in Transformationsprojekten verringern

Performance Verluste reduzieren durch systematisches Vorgehen

Die Wirkung der Kraftfelder

Wie bereits erwähnt beschreibt Kurt Lewin in seinem Kräftemodell, dass es treibende Kräfte gibt, die diese Optimierung unterstützen und Kräfte, die dieser entgegenwirken. Lewin stellte auch schon die Theorie auf, dass die entgegenwirkenden Kräfte reduziert werden müssen, um den Aufwand für die unterstützenden Kräfte auf ein umsetzbares Maß zu reduzieren. Und es gibt noch einen weiteren Grund: So besteht aufgrund hoher entgegenwirkender Kräfte die Gefahr, dass die Organisation wieder in alte Muster und auf die vorherige Leistungsfähigkeit zurückfällt, sobald es auch nur zu einem kleinen Rückgang der unterstützenden Kräfte kommt.

Wenn wir also die entgegenwirkenden Kräfte reduzieren, wird es uns leichter fallen, die notwendigen unterstützenden Kräfte zu erzeugen, um den Wandel zu begünstigen und die Performance Lücke gering zu halten.

Was bedeutet das für die Praxis?

Für die Praxis möchte ich 5 grundlegende Empfehlungen geben, die natürlich jeweils im Kontext der vor Ihnen liegenden Veränderungsaufgabe gesehen werden müssen:

  1. Machen Sie sich zuerst Gedanken über die vorhandenen entgegenwirkenden Kräfte. Welche Widerstände gibt es, und wie lässt sich diesen Begegnen? Klären Sie diese Frage, bevor Sie ihre unterstützenden Maßnahmen definieren.
  2. Übertragen Sie Ihre persönliche Bewertung der Veränderung nicht auf Andere. Sie laufen sonst Gefahr, wichtige Widerstände oder mögliche Unterstützer zu übersehen. Tools wie die „Empathy-Map“, die „Akzeptanzmatrix“ oder systemische Methoden können Sie bei der Reflexion unterstützen.
  3. Widerstände und Ablehnung können Sie bei der Suche nach möglichen „Stellschrauben“ unterstützen. Arbeiten Sie hierzu insbesondere heraus, in welchem Kontext es zu Ablehnung kommt.
  4. Die in Ihrer Organisation gelebte Praxis und die bestehenden Richtlinien und Prozesse können ebenfalls Kräfte sein, die der Veränderung im Wege stehen. Wenn Sie beispielsweise eine offene Fehlerkultur etablieren wollen, Führungskräfte aber regelmäßig mit personellen Maßnahmen drohen, ist dies ein Widerspruch, den es aufzuarbeiten gilt.
  5. Ein systematisches und methodisches Vorgehen hilft Ihnen, die oben genannten Optimierungsziele zu erreichen. Starten Sie also kein Veränderungsprojekt ohne klares System.

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Eigene Darstellung

Published On: 18. August 2023 / Categories: Change Management, Entscheidungen /